Als ich nach Deutschland kam...Paolo Russo
Gastarbeiter aus der Türkei und Italien erzählen, wie sie in den 60-iger Jahren nach Deutschland kamen und eine Deutsche Seniorin berichtet, wie sie die Zuwanderung erlebt hat. In der sechsten Folge dieser Artikelserie berichtet Paolo Russo über seine Erlebnisse:
Paolo Russo
Geboren am: 24.10.1946
Geburtsort: Mazzarino
Caltanissetta – Italien
In Deutschland seit 1966
Grund der Einwanderung: Arbeitslosigkeit & Vater, Bruder in Köln
Beruflicher Werdegang: Universal Fräser bei Ford
Urlaubsort: Sizilien – Italien, gelegentlich: Europäische Städte
Paolo Russo kann seine Herkunft nicht verstecken. Mit dem typischen Schwung seines italienischen Akzentes wirkt er freundlich und offen. Paolo Russo redet gern mit Gesten. Seine Worte sind dabei tiefsinnig und zeigen, dass er ein Mensch ist, der aus den Erlebnissen lernt. Mancher mag ihn als italienischen Lebensmittelhändler in Erinnerung haben. Paolo Russo führte viele Jahre ein Geschäft mit einer erlesenen Weinauswahl aus Italien, in der Zülpicher Straße in Köln.
Guten Tag. Ich heiße Paolo Russo. Ich bin 1966, im Alter von 19 Jahren, nach Köln gekommen. Es war eigentlich nicht ganz in Ordnung, denn ich hatte keinen Arbeitsvertrag. Mein Vater und mein Bruder waren bereits hier.Nach einer Woche hatte ich einen Arbeitsplatz bei Ford gefunden.
Paolo Russo hatte in Italien eine Ausbildung zum Dreher und Fräser gemacht. Das gab ihm Sicherheit. Nach der Ausbildung fand der junge Mann keine Arbeit. Da sein Vater und sein Bruder bereits
in Deutschland gewesen waren, fiel die Entscheidung schnell, auch hier sein Glück zu suchen. Es war eine große Hoffnung für Paolo. Trotzdem war der Weggang schwer. Die Abreise aus seiner Heimat
ist Paolo im Gedächtnis geblieben.
Als ich vom Bahnhof in Sizilien den Zug nahm… diese Momente habe ich bis heute nicht überwunden und ich kann davon schlecht reden. Die Emotionen waren so stark und so schwer. Als wir in einen Tunnel hineinfuhren, hat es sich angefühlt wie eine Reise in die Hölle.
Wir waren zwei oder drei Minuten in der Dunkelheit. Dieses Gefühl in die Hölle zu fahren, ist heute nach 45 Jahren immer noch sehr schwer zu erzählen.
Dann kam die Helligkeit und es war für mich,wie aus der Hölle rauszukommen und endlich haben sich meine Emotionen gelöst.
Paolo weint, während er dies erzählt. Es bewegt ihn noch heute und zeigt, wie tief dieser Einschnitt in seinem Leben gewesen sein muss.
In Köln angekommen musste Paolo sich schnell eine Arbeit suchen, denn er hatte keine Aufenthaltserlaubnis.
Zum Glück hatte er Vater und Bruder sowie Freunde an seiner Seite. So ging es recht schnell, dass er bei Ford anfangen konnte.
Während dieser Zeit haben sie bei Freunden gewohnt, bis Paolo mit seinem Vater in eine Wohnung gezogen ist. Sein Bruder kehrte zurück nach Italien. Die Wohnung war sehr klein. Für zwei Personen
standen 8 qm zur Verfügung. Hier gab es ein Etagenbett, ein Waschbecken und einen kleinen Tisch für zwei Brenner. Die Toilette befand sich im Treppenhaus für zwei Familien. Dusche oder gar Badewanne gab es nicht.
Das Essen war für mich nicht gut. Es ist mir schlecht bekommen. Deshalb habe ich nur das gegessen, was mir gefallen hat. Schließlich haben wir eine Wohnung gefunden. Dort habe ich zusammen mit meinem Vater gelebt. Mein Vater konnte gut kochen, daher hat er immer gekocht.
Mit der deutschen Sprache tat sich Paolo Russo zu Beginn etwas schwer. Er sagt selbst, dass er sich auf seinen Bruder gestützt hat. Dieser konnte etwas Deutsch und hat alles für ihn geregelt. Auf der
Arbeit brauchte er wenig Deutsch zu reden.
Die ersten 9 Monate habe ich sehr wenig Deutsch gelernt. Dann fuhr mein Bruder wieder zurück nach Italien. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich richtig bemüht. Ich habe die Sprache selber gelernt, durch lesen. Das Italienische Generalkonsulat hat kleine Bücher zur Verfügung gestellt. Darin wurden Sätze auf Italienisch abgedruckt und diese ins Deutsche übersetzt. Dabei wurde auch die Aussprache erklärt.
Langsam ging es vorwärts. Paolo Russo fühlte sich von Beginn an wohl in Köln. Im Laufe der Zeit holten sie seine Mutter hierher. Doch Paolos Vater wurde älter. Das Schicksal half dabei, dass sie an einen kleinen Lebensmittelladen in der Zülpicher Straße kamen. Paolo und sein Vater machten daraus einen italienischen Spezialitäten-Laden. Die Besonderheit des Geschäftes war ein umfassendes
Weinsortiment.
Paolo Russo importierte italienische Weine. Das Angebot umfasste ca. 150 erlesene Weinsorten. Das gab es in Köln zu dieser Zeit nicht. Der Wein war bei vielen Feinschmeckern sehr beliebt.
Bei uns kauften z.B. Professoren von der Universität, Alfred Biolek oder Politiker.
Fünfzehn Jahre lang führte Paolo das Geschäft mit seiner Familie. Als Paolos Vater starb und seine Mutter zurück nach Italien ging, wurde der Laden mehr und mehr zu einer Belastung. Er selbst arbeitete weiterhin bei Ford, und seine Frau konnte sich nicht ausreichend um die geschäftlichen und familiären Belange kümmern. So gaben sie den Lebensmittelladen schließlich auf.
Paolo Russos Ehefrau, eine Sizilianerin, konnte sich ursprünglich nicht vorstellen einen Mann zu heiraten, der nach Deutschland gegangen ist. In Italien herrschte die Meinung, dass die nach Deutschland Ausgewanderten sich in Italien keine Existenz aufbauen konnten und abgehauen sind. Außerdem hatte sie in Sizilien eine gute Arbeitstelle und war abgesichert.
Doch es kam anders, denn sie verliebte sich in Paolo. Er hatte sie zuvor in einem Video gesehen und wollte sie kennenlernen. Relativ schnell nach dem ersten Treffen, verlobte sich die stolze Sizilianerin mit dem ausgewanderten Paolo. Die Hochzeit folgte bald darauf.
Als Paolos Frau kam sie schließlich doch mit nach Deutschland. Aus der Erfahrung mit anderen Auswanderern hat sie gelernt. Viele wollten nur ein paar Jahre in Deutschland arbeiten und dann zurückkehren. Sie haben sehr sparsam gelebt und nur gearbeitet. Oft wurden die Kinder in Italien von den Großeltern aufgezogen.
Das wollte sie auf gar keinen Fall.
Sie sagte: Was ist das für ein Leben? Nein, erstmal leben wir hier und unsere Kinder werden hier zur Schule gehen. Wir haben in Deutschland gelebt, als wäre es unsere Heimat. Wir haben unsere erste und dann unsere zweite Wohnung gekauft.
Während der gesamten Zeit arbeitete Paolo Russo bei Ford. Er hat in wechselnden Schichten gearbeitet und später fünf Jahre lang Nachtschicht gemacht.
Ich habe an einer großen Fräsmaschine gearbeitet. Die Arbeit hat mir eigentlich Spaß gemacht. Nur manchmal war es mir zu viel, zu umständlich. Zum Schluss fiel mir die Arbeit schwer, weil es körperlich anstrengend war und ich bin älter geworden. Das war für meine Knochen eine Belastung. Aber ich habe gern bis zum letzten Tag gearbeitet.
Im Allgemeinen ging es den Arbeitern bei Ford gut. Jeder wird nach Tarif bezahlt und kann aufsteigen.
Weil sie Hilfsarbeiter waren, haben die Leute weniger Geld bekommen, nicht weil sie Ausländer sind. Bei Ford war es so, dass auch ausländische Arbeiter, die Willen und Engagement zeigten, höhere Posten bekommen haben. Es gibt jede Menge Türken, die sind Vorarbeiter oder Meister geworden. Ich habe auch als normaler Arbeiter angefangen und später, als ich besser Deutsch konnte, bin ich in die Facharbeiterabteilung gekommen, weil ich eine Ausbildung hatte.
Wenn Paolo nicht arbeitete, sondern Urlaub hatte, fuhr die Familie nach Sizilien. Früher fuhren sie mit dem Auto, heute fliegen sie.
Paolo Russo hat sich in Deutschland, durch sein Umfeld und vielleicht, weil er einfach das Leben annimmt, immer wohl gefühlt. Er hatte stets Familienanschluss. Sie haben gemeinsam gekämpft und
sich etwas aufgebaut. Jeder ist für den anderen da.
Und so konnten sie ihr Umfeld bereichern und etwas zurückgeben. Das ist bis heute so geblieben.
Egal, ob seine Tochter einen Auftritt als Sängerin hat oder sein Sohn eine türkische Frau heiratet, Paolo und seine Frau nehmen Anteil und helfen.
Die Familie lebt in Deutschland auf italienische Art, voller Tatendrang und Zuversicht. Sie lachen, streiten, weinen und erzählen. Es ist eine sehr sympathische Art das Leben anzunehmen. So hat Paolo
Russo durch seinen Laden und sein Mitgefühl vielen Menschen Zuversicht und Hilfe gegeben.
Manchmal denken wir, dass wir ein besonderes und schwieriges Erlebnis gehabt haben. Wir fühlen uns manchmal sehr stark betroffen und wir denken, ausgerechnet ich musste das und jenes so schwer erleben. Durch diese Gesellschaft, die ich hier in der Erzählwerkstatt kennengelernt habe, weiß ich nun, dass überall auf derWelt wir alle Schwierigkeiten haben.
Und die Schwierigkeiten von anderen Leuten sind oft schwerer als unsere eigenen.
Weitere Geschichten finden Sie hier: Erzählwerkstatt "Als ich nach Deutschland kam..."
Die Geschichten der Erzählwerkstatt "Als ich nach Deutschland kam..." sind außerdem in einer Broschüre erschienen. Herausgeberin ist Arbeiterwohlfahrt, Kreisverband Köln e.V., Frau Ulli Volland-Dörmann, Rubensstr. 7-13, 50676 Köln Layout: GNN-Verlag Köln
Die Broschüre finden Sie in zahlreichen Begegnungsorten in Mülheim ausgelegt. Oder Sie können sie direkt im IFS - Interkulturelles Forum für Senioren, in der Dünnwalder Str. 5, 51063 Köln-Mülheim bekommen.
Öffnungszeiten: Dienstag - Donnerstag: 14.00 - 16.00 Uhr